Es leuchtet hell ein Stern in dunkler Nacht

Matti hockte sich nieder und machte sich ganz klein. Sie hatten ihn zurückgelassen. Alle waren sie fortgegangen.

»Du wachst bei den Schafen«, hatte der alte Simon gesagt. »Du bist groß genug für die Wache.«

Dann waren sie einfach fortgegangen.

Tobi hatte ihm Angst gemacht und geflüstert: »Und lauf nicht weg, wenn die Wölfe kommen.«

Nun, Matti hatte Angst. Das Wolfsgeheul schallte schon seit einigen Nächten bis ins Tal hinab.

Diese Nacht kam Matti jetzt finsterer vor als alle anderen Nächte. Aber das mochte an dem merkwürdigen Licht liegen, das zuvor gegen Mitternacht aufgestrahlt war.

Mit einem Male war der Himmel gleißend hell geworden.

Die Sterne fingen an zu tanzen und der Mond hatte einen Purzelbaum geschlagen.

Da überkam die Hirten eine große Furcht.

Selbst der alte Simon begann zu zittern.

Aber dann erschien eine Lichtgestalt am Himmel. Sie sprach zu den Hirten:

»Fürchtet euch nicht. Ich bringe euch eine gute Nachricht. Freut euch alle, denn heute ist euch der Heiland geboren worden, Christus der Herr. Und Friede soll sein auf Erden.«

Matti hatte es genau gehört.

Die Stimme hatte von einem Kind gesprochen. In Windeln sollte es gewickelt sein und in einer Futterkrippe liegen. Auf Bethlehem zu sei das alles geschehen. Mit einem Male glänzte der ganze Himmel wie ein goldener Mantel. Wunderbare Klänge ertönten, eine Musik erschallte, wie Matti sie nie zuvor gehört hatte.

Die Hirten brachen auf und wollten das Kind in der Krippe sehen und ihm Geschenke bringen.

Nur Matti musste bleiben und die Herde bewachen.

Das Licht war längst erloschen.

Matti saß allein in der Finsternis. Mit der rechten Hand hielt er seinen Hirtenstab. Seine linke Faust umklammerte den Zahn eines Löwen. Im Frühling war Matti mit den Hirten losgezogen. Zum Abschied hatte sein Vater ihm diesen Reißzahn des Löwen geschenkt. »Wenn dich die Angst packt«, hatte er gesagt, »dann nimm den Zahn des Löwen fest in die Hand. Löwen sind mutig. Etwas von dem Löwenmut wird dann auf dich überströmen.«

Matti hatte erst zweimal den Zahn des Löwen zur Hilfe gerufen. Einmal sollte er ganz allein ein verlorenes Lamm suchen. Da hatte er nach dem Zahn des Löwen gegriffen. Das andere Mal waren Räuber um die Hürde der Schafe geschlichen. Die Hirten hatten sie vertrieben. Auch da hatte ihm der Zahn des Löwen geholfen. Mattis Angst war beide Male gewichen.

Allmählich spürte er die Kraft des Zahns auch in dieser Nacht. Er richtete sich auf und ging auf die Hürde zu. Die Hirten hatten aus dicken Steinen eine kreisrunde Mauer gebaut. Ein einziger enger Eingang befand sich darin. Der war so schmal, dass nur ein Schaf nach dem anderen hindurchlaufen konnte.
Jeden Abend wurden die Schafe heimgetrieben. Matti hatte von Simon eine wichtige Aufgabe übertragen bekommen. Er musste die Schafe zählen, wenn sie sich in die Hürde drängten. Er stellte sich dann breitbeinig auf die beiden Steine, die links und rechts von dem Eingang der Hürde aufgerichtet worden waren. Jedes Mal wenn ein Schaf unter ihm hindurchschlüpfte, gab er ihm einen Klaps auf das Fell und zählte laut. Er kam von eins bis 231. Dann waren alle Schafe in der Hürde und der Eingang wurde mit Dornengestrüpp verschlossen. Matti sagte stolz: »Ich kenne sie und sie kennen mich.«

Matti kletterte auf die Mauer. Die Schafe hatten sich gelagert. Plötzlich erschallte ganz in der Nähe lang gezogen das Wolfsgeheul. Die Schafe hoben ihre Köpfe nicht. Matti fasste seinen Hirtenstab fester. Es schien ihm, als ob der Zahn des Löwen in seiner Hand ganz heiß wurde. Er starrte in die Dunkelheit. Weit reichte sein Blick nicht. Nirgendwo sah er den Schimmer eines Wolfes. Er wunderte sich, dass die Schafe nicht aufgesprungen waren und nicht angstvoll blökten und sich nicht zusammendrängten. Das hatten sie doch immer getan, wenn sich die Wölfe näherten.

Hatte er sich getäuscht?

War da gar kein Wolf?

Dann jedoch gab es keinen Zweifel mehr. Er sah es deutlich. Gar nicht weit vor ihm huschten sechs, sieben graue Schatten über die Mauer in die Hürde. Die Wölfe!

Die Angst packte Matti.

Weglaufen! Das war sein erster Gedanke. Er stand wie erstarrt auf der Mauer. Merkwürdig still war es.

Die Schafe hatten sich zwar erhoben, aber sie standen ganz ruhig. Ihr leises Blöken klang nicht wie Angstgeschrei.

Matti presste den Zahn des Löwen in seiner Hand so fest er nur konnte. Mit ganz kleinen Schritten ging er über die Steine der Mauer. Er näherte sich der Stelle, an der die Wölfe gesprungen waren.

Seinen Hirtenstab hielt er hoch zum Schlag erhoben.

Da sah er es ganz genau. Konnte er das glauben? Oder träumte Matti nur einen schönen Traum?

Der Junge tippte mit dem Stab gegen seinen Kopf. Nein, er schlief nicht.

Gebannt schaute er auf ein friedliches Bild.

Die Wölfe hatten sich in einer Runde aufgestellt, die Schwänze in der Mitte beieinander und die Schnauzen den Schafen zugewandt. Die Schafe beschnupperten die Wölfe und zeigten nicht die mindeste Angst. Sie lagerten sich schließlich wieder eins nach dem anderen.

Die Wölfe ließen sich ebenfalls nieder.

Da lag nun Wolf neben Schaf und Schaf neben Wolf.

Matti ließ den Hirtenstab sinken. Er hörte, wie ein alter Hammel die Wölfe fragte: »Warum wollt ihr uns fressen?«

Ein Wolf antwortete: »Das machen wir nur, wenn uns der Hunger quält. Ihr fresst Gras und Kräuter. Wir leben vom Fleisch der Tiere.«

»Wie schade«, seufzte der Hammel, »wie schade, dass es nicht immer so friedlich zugeht wie heute Nacht.«

Der Wolf sagte: »Es wird in unserem Wolfsrudel erzählt, dass es früher auch schon mal anders gewesen ist. Im Paradies sollen die Tiere alle gut miteinander ausgekommen sein. Und dann war es noch einmal so, als Noah die Arche baute und die Tiere vor der großen Flut gerettet hat. Auch damals sollen Löwe und Lamm, Wolf und Schaf, Tiger und Kalb ganz vertraut miteinander gewesen sein und sich nichts zuleide getan haben. Heute ist auch eine solche Stunde, in der ein großer Friede allüberall herrscht.«

Der Hammel wiegte seinen Kopf hin und her und sagte: »Wie schade, dass es nicht immer so zugeht.«

Der Wolf versuchte, die Schafe zu trösten und sagte: »Es wird einmal wieder so sein. Irgendwann. Friede zwischen Tier und Tier und auch bei den Menschen. Auch davon haben wir gehört.«
Der Hammel musste lachen.

»Das wäre wunderbar«, sagte er. »Wir wollen nur hoffen, dass dieser Friede kommt, bevor die Menschen uns geschlachtet haben und bevor ihr uns aufgefressen habt.«

Der Wolf knurrte und entblößte sein scharfes Gebiss.

Der Hammel erschrak. Er wusste ja nicht, dass die Wölfe beim Lachen knurren und die Zähne zeigen.

Matti stand immer noch auf der Mauer.

Mit einem Male richteten sich die Wölfe auf und reckten ihre Nasen in die Luft.

Einer murrte: »Es wird uns zu unruhig hier.«

Sie sprangen über die Mauer und verschwanden in der Dunkelheit. Gleich darauf hörte auch Matti es, Simon und die anderen Hirten kehrten zurück.

Matti erzählte ihnen, was er gesehen und gehört hatte.

Tobi lachte über ihn und sagte: »Du Faulpelz bist sicher eingeschlafen und hast das alles geträumt.«

»Schweig«, rief Simon dem Tobi zu. »Hast du schon vergessen, dass uns die Engel den Frieden verkündet haben? Hast du das alles schon vergessen? Matti hat einen Funken von diesem Licht des Friedens mit eigenen Augen gesehen.«

»Aber das Kind in der Krippe habe ich nicht gesehen«, sagte Matti.

»Kannst du den hellen Stern dort am Himmel erkennen?«, fragte Simon ihn.

»Sicher, Simon. Er leuchtet viel heller als in anderen Nächten.«

»Wenn du willst, Matti, dann laufe in die Richtung, die der Stern dir zeigt. Dann findest du Stall und Krippe, das Kind und Maria und Josef.«

»Ganz allein durch die dunkle Nacht?«

»Nur, wenn du es willst«, sagte Simon zu Matti.

Zuerst zauderte Matti. Dann aber erinnerte er sich an den Zahn des Löwen.

Er hielt ihn ganz fest in seiner Faust und ging los.

Diesmal schien die Kraft des Zahns nur wenig zu nützen. Die Angst kroch Matti bis ins Herz.

Er begann zu zittern und zu beben.

»Wäre ich doch bei den Schafen geblieben«, jammerte er.

Schon wollte er umkehren, da sah er abseits des Pfades und gar nicht weit vor sich den Stall.

Er trat hinzu.

Maria wiegte das Kind. Josef hatte sich in eine Ecke gehockt und schlief. Der Ochse und der Esel, die auch in dem Stall waren, schnoberten und hielten die Augen halb geschlossen.

Maria bemerkte den jungen Hirten. Sie winkte ihm mit der Hand zu. Er sollte näher kommen.

Ganz nah trat er an das Kind heran. Maria nahm Mattis Hand, in der er den Zahn des Löwen trug, und sagte:

»Wenn du magst, dann darfst du das Kind streicheln.«

Matti legte den Zahn auf die Zudecke und berührte mit einem Finger ganz behutsam den Kopf des Kindes.

Es durchströmte ihn eine große Freude, und alle Furcht wich von ihm.

Eine ganze Weile stand Matti noch und schaute auf das Kind.

»Ich muss zurück zu der Herde«, flüsterte er Maria zu.

»Vergiss den Zahn des Löwen nicht«, erinnerte sie ihn.

Einen Augenblick druckste Matti herum.

Dann sagte er leise: »Das ist mein Geschenk für das Kind.«

Er verließ den Stall und ging in die Nacht hinaus.

Am Himmel zeigte sich im Osten zaghaft das erste Licht des neuen Tages.

Matti rannte los. Alles in ihm jubelte.

Seine Angst war ganz und gar verschwunden.

Die Hirten schliefen. Nur Tobi saß am Feuer und hielt die Wache.

»Na?«, fragte er. »Hast du Angsthase dich gefürchtet? Hat dir dein Zahn geholfen?«

»Den Zahn des Löwen brauche ich nicht mehr Ich habe ihn bei dem Kind zurückgelassen. Und meine Angst auch.«

Tobi lachte. »Einmal Angsthase, immer Angsthase«, spottete er.

Aber Matti wusste es besser.

Er wusste es ganz genau.

Willi Fährmann; Astrid Krömer: Es leuchtet hell ein Stern in dunkler Nacht.
Würzburg, Edition Bücherbär, 2001