Das Leuchten in der Musik

Mira konnte es kaum glauben, als Frau Raschke sie vor ein paar Tagen nach der Schulchorprobe angesprochen hatte. „Deine Stimme hat etwas Besonderes, Mira. Wie wäre es, wenn du auch im Kirchenchor mitsingst?“ Miras Augen hatten vor Freude geglänzt. Singen war für sie wie Atmen, und die Einladung fühlte sich an wie ein Ritterschlag.
Heute war der große Tag. Zum ersten Mal würde sie bei den Proben des Kirchenchors dabei sein. Doch je näher sie der kleinen Kirche kam, desto heftiger klopfte ihr Herz. Ihre Hände zitterten, als sie die Tür zur Sakristei öffnete. Die Stimmen der Kinder hallten schon durch den Raum – ein Durcheinander aus Lachen, Rufen und Flüstern. „Neuankömmlinge müssen immer vorsingen“, hatte Basti, der Klassenclown, am Morgen gescherzt. Sein schelmisches Grinsen hatte sich in Miras Gedanken festgesetzt, und jetzt nagte die Angst an ihr.
„Mira ist heute neu bei uns!“ Frau Raschkes Stimme schnitt durch das Stimmengewirr, und alle Köpfe drehten sich zu ihr um. Mira spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Einige Kinder kannte sie aus der Schule, andere waren ihr völlig fremd. Sie wollte sich gerade unauffällig in die hintere Reihe schleichen, als Frau Raschke ans Klavier trat. „Fangen wir an. Alle bereit?“
Ein paar Tasten erklangen, klar und hell, gefolgt von einem tiefen Summen. Die Kinder stimmten ein, aber es klang – na ja, schräg. Frau Raschke hob gespielt entsetzt die Hände. „Das ist ja Chaos! Hat jemand unseren Ton entführt?“ Sie zog eine Grimasse, raufte sich theatralisch die Haare, und die Kinder brachen in schallendes Gelächter aus.
„Vielleicht hat Mira ihn!“ Die Worte kamen von einem Jungen in der ersten Reihe. Alle Köpfe wandten sich erneut zu ihr. Der Junge lächelte aufmunternd und nickte in ihre Richtung. Mira schluckte. Ihr Mund war trocken, aber als sie tief durchatmete, schien ihre Nervosität kurz zu verfliegen. Langsam erhob sie sich, öffnete die Lippen – und ein reines, leuchtendes A erfüllte den Raum.
Frau Raschke hielt inne, horchte, und schlug dann begeistert mit der Stimmgabel den gleichen Ton an. „Perfekt! Hört mal, wie schön das klingt!“ Die anderen Kinder summten nun vorsichtiger, konzentrierter. Das A fächerte sich aus wie ein zartes Netz, das jeden im Raum einfing.
Mira spürte, wie die Wärme der Musik durch sie hindurchströmte. Ihre Stimme schwang sich plötzlich eine Oktave höher, fast wie von selbst, und Frau Raschke ließ ihre Finger über die Klaviertasten gleiten. Eine Melodie formte sich, leise und einladend. Mira ließ sich mitziehen. Sie sang von Weihnachten, von Lichtern und Frieden, von Liebe und Wärme, die geteilt werden wollen.
Die anderen Kinder hörten gebannt zu, atemlos, als hätte sich die Zeit für einen Moment angehalten. Mira merkte es kaum. Die Musik hatte sie eingehüllt, und ihre Stimme fühlte sich leicht und frei an, als würde sie den ganzen Raum zum Leuchten bringen.
Als das letzte Wort verklang, blieb es still. Nur der Nachhall ihrer Stimme schwebte in der Luft, bevor der erste Applaus zaghaft einsetzte. Dann jubelten alle, klatschten und riefen: „Das war unglaublich!“
Mira ließ sich in ihren Stuhl sinken, die Hände noch immer zittrig, aber ihre Augen strahlten vor Glück.
Am Abend, als sie im Bett lag, hörte sie das A noch in ihren Gedanken nachklingen, wie ein Lied, das niemals enden wollte. „Ich gehöre hierher“, flüsterte sie lächelnd. Und sie wusste, dass es stimmte.

© Regina Meier zu Verl