Der alte Schuhkarton
„Es war nach dem Krieg, und zu kaufen gab es rein gar nichts“, beginnt die alte Dame mit einem Lächeln. Um sie herum sitzen ihre Ur-Enkelkinder und lauschen gespannt. Draußen fallen dicke Schneeflocken, und im Haus duftet es nach Tannenzweigen und frisch gebackenen Plätzchen. Oma lehnt sich in ihrem Sessel zurück und blickt in die Ferne, als könnte sie durch die Zeit reisen. „Da hat meine Mutter etwas ganz Besonderes für mich gemacht.“
Die Urenkel sind still, sie ahnen, dass eine dieser Geschichten kommt, die sie schon oft gehört haben – oder doch nicht? Omas Augen strahlen, und das finden sie aufregend. Sie sind neugierig, auch wenn sie sich kaum vorstellen können, dass etwas so Großartiges dabei herauskommen könnte.
„Sie hat einen alten Pullover aufgeribbelt und eine Puppe daraus gestrickt. Ich hatte nie etwas Schöneres gesehen!“ Omas Stimme ist ein Hauch aus Erinnerungen und tiefer Dankbarkeit, aber die Enkelkinder schauen einander mit fragenden Blicken an. Eine gestrickte Puppe?
„Aber Oma, das war doch nur eine Lumpenpuppe!“ ruft eines der Kinder heraus, und die anderen kichern. Für sie kann das keine große Sache gewesen sein, verglichen mit den blinkenden, beweglichen Spielsachen, die sie heute haben.
Oma lächelt nur. „Oh, sie war schön! Sie war die Einzige, die ich hatte, und ich habe sie geliebt.“ Die Enkel beginnen zu staunen, denn die Geschichten nehmen eine unerwartete Wendung: Eines Tages, erzählt Oma, war ihre Puppe plötzlich weg. „Ich habe tagelang geweint“, sagt sie leise und schaut zu Boden. „Ohne meine Puppe war alles so… leer.“
Die Kinder rücken ein Stück näher. Wie konnte ihre Oma so traurig sein über eine Puppe, die nach einem aufgeribbelten Pullover aussah? Sie hängen an ihren Lippen, als sie weitererzählt. „Da klopfte eines Tages ein amerikanischer Soldat an unsere Tür. Er hielt die Puppe in den Händen.“ Die Augen der Enkelkinder werden groß, als sie sich die Szene vorstellen. Der Soldat hatte die kleine, gestrickte Puppe gefunden und sich an das Mädchen erinnert, das immer damit gespielt hatte.
„So habe ich meine Puppe wiederbekommen“, schließt Oma mit einem glücklichen Seufzer.
Eine kurze Stille folgt, dann flüstert der jüngste Urenkel: „Schade, dass wir sie nie sehen können.“ Oma lächelt nur und erhebt sich langsam. Sie geht zum Kleiderschrank, zieht einen alten Schuhkarton heraus und öffnet den Deckel. Sorgsam wickelt sie die Puppe aus Seidenpapier – das kleine Gesicht der gestrickten Puppe scheint im Schein der Lampe fast lebendig. Die Kinder starren sie ehrfürchtig an, als hielten sie ein kleines Stück der Geschichte in den Händen.
© Regina Meier zu Verl